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Neurowissenschaften treffen auf Psychotherapie

Klaus Grawe war ein Psychologischer Psychotherapeut und ein Psychotherapieforscher. Vor vielen Jahren haben praktische Behandlungen sich auf Theorien aus der Psychotherapieforschung gestützt, die teilweise in der Wissenschaft nicht gut replizierbar waren. Die Gefahren sind dementsprechend groß. Mangelnde Effektivität der Ansätze, systematische Verzerrung, z.B. je nach Behandler:in usw. Grawe hat sich zur Aufgabe gemacht Psychotherapie messbarerer zu machen. Hierfür hat er über Jahrzehnte mit Patient:innen zusammen gearbeitet und versucht wesentliche gemeinsame Faktoren von psychischen Störungen zu identifizieren. Aus Annahmen sollten also Belege werden.

Er hat bei seiner Arbeit eine neurowissenschaftliche Perspektive mit einbezogen. Er ging davon aus, dass Psychotherapie wirkt, wenn es auch im Gehirn zu Veränderung kommt. Oder wie Eric Kandel sagt: Psychotherapie ist Training für’s Gehirn.

Durch den Fortschritt in der Medizin ist es uns heute möglich durch bildgebende Verfahren abzubilden was zum Beispiel passiert, wenn ein Mensch eine Panikattacke erleidet oder wenn ein Mensch sich seit Monaten depressiv fühlt. 

Aufbau des Buches

Einleitung

Zu Beginn werden Leser:innen relativ detailliert in die Fachbegriffe eingeführt. Es werden Begriffe erklärt und voneinander abgegrenzt. Was meint man eigentlich unter Neurowissenschaften? Wie sieht sie in der praktischen Arbeit aus? Es werden auch die gängigsten und gesicherten Erkenntnisse über das menschliche Gehirn vorgestellt. 

Was Psychotherapeut:innen über das Gehirn wissen sollten

In diesem Abteil des Buches werden Leser:innen vertraut gemacht mit dem Aufbau und der Funktion des Gehirns. Dies ist wichtig, da man in der praktischen Arbeit auf diese gesicherten Theorien zurückgreifen kann und so eine therapeutische Sitzung optimal ausrichten kann. 

Beispiele für dieses Kapitel sind:

  • Biochemie im Kopf
  • Ist es reduktionistisch psychische Vorgänge auf neuronale Vorgänge zu versimplifizieren?
  • Neuronale Aktivität und Hemmung
  • Neuronale Erregungsmuster
  • Wichtig kognitive Domänen wie z.B. Gedächtnisbildung, das Konzept der Angst, Wahrnehmung, intentionale Handlungen werden vorgestellt
  • Bewusstsein und der Wille
  • Neuroplastizität

Neuronale Korrelate psychischer Störungen

In diesem Abschnitt werden einzelne psychische Störungen genauer untersucht. Es werden die neuronalen Vorgänge von Depressionen, Panikstörungen, Generalisierter Angststörungen, Zwangsstörungen und der Posttraumatischen Belastungsstörung genauer untersucht. Dabei tauchen immer wieder der Hippocampus, die Amygdala und der präfrontale Kortex als neuronale Korrelate auf. 

Bedürfnisbefriedigung und psychische Gesundheit

In diesem Abschnitt wird erklärt, dass wir Menschen biologisch angeborene Grundbedürfnisse haben und diese für stabile (mentale) Gesundheit von zentraler Bedeutung sind. Diese Theorie wird nach Grawe Konsistenztheorie genannt. Menschen möchten über ihre Lebensspanne somit die folgenden Grundbedürfnisse befriedigen:

  • Bindung
  • Kontrolle/Orientierung
  • Selbstwerterhöhung- und Selbstwertschutz
  • Lustgewinn/Unlustvermeidung

Dem übergeordnet steht das Streben nach Konsistenz. Wir möchten uns ohne Anspannung und ohne Widersprüche erleben. Ich habe bereits einen Artikel zur Konsistenztheorie verfasst. Hier kannst du ihn dir durchlesen.

Therapeut:innen arbeiten häufig mit Menschen zusammen, die unter ihren Symptomen leiden. Oder im Sinne von Grawe ausgedrückt: Therapeut:innen arbeiten mit Menschen, die höchstwahrscheinlich Grundbedürfnisverletzungen erlebt haben. In diesem Kapitel wird auch noch die Thematik der psychischen Störung behandelt. Also: Wie wird aus einer Grundbedürfnisfrustration eine psychische Störung? Dabei legt der Autor einen großen Fokus auf frühkindliche Erfahrungen. 

Schlussfolgerung für die Psychotherapie

Zu guter Letzt wird das Buch lebendig und ein wenig zu einem kleinen “Therapeut:innen-Manual”. Es werden beispielsweise Impulse gegeben wie Therapeut:innen mit Patient:innen arbeiten könnten, wenn diese unter bestimmten Grundbedürfnisfrustrationen leiden. Gleichzeitig ist die Vorstellung sehr motivierend zu wissen, dass durch Gespräche und die daraus abgeleiteten Übungen das Gehirn durch Neuroplastizität verändert wird und sich darauf neue Gedanken (oder der Umgang damit), Gefühlsregulationsstrategien und Verhaltensweisen entwickeln können. Darüber hinaus hat Klaus Grawe fünf Wirkfaktoren für die psychotherapeutische Behandlung abgeleitet: 

  • Therapeutische Beziehung
  • Problemaktualisierung
  • Ressourcenaktivierung
  • Problembewältigung
  • motivationale Klärung

Persönliche Meinung und Erfahrung

Ich kann an dieser Stelle natürlich nicht eine verallgemeinerte Antwort geben mit den Worten “das wäre für alle gut”. Jedoch möchte ich trotzdem einige wenige Worte dazu verlieren.

Ich habe das Buch durch meine damalige Praxisanleitung kennenlernt. Sie hat zu mir gesagt (so in etwa): “Paul, es gibt viele Bücher, aber das solltest du gelesen haben. Wenn du wirklich daran interessiert bist eine gute Behandlung anzubieten, lies es”. Gesagt getan.

Und ja, auch so viele Jahre später finde ich dieses Buch sehr bereichernd und ziehe heute noch viel Wissen daraus. Und das aus verschiedenen Gründen. Ich finde, es bietet einen tollen theoretischen Fundus und auch viele Studien zum nachblättern. Andererseits gibt es einem – aus Behandler:innen-Sicht – eine gewisse Sicherheit warum man welche Intervention gerade ausgewählt hat. Darüber hinaus bieten sich einige Erkenntnisse auch gut an, um diese mit Patient:innen zu besprechen. Einerseits als Psychoedukation, andererseits auch als Motivator. 

Für wen eignet sich das Buch?

Laut Backcover des Buches eignet sich das Werk für Therapeut:innen, Student:innen, lehrende und forschende Personen. Das sehe ich im Großen und ganzen auch so. Das Buch setzt schon ein gewisses Grundverständnis für biologische Abläufe voraus. Ich habe das Buch für die Vorstellung hier erneut überflogen. Ich merke, dass ich einen viel leichteren Zugang dazu finde, wenn ich eigene Patient:innen mir dazu vorstellen kann. Im Studium fiel mir das Lesen natürlich etwas schwerer. Und dennoch würde ich sagen, dass auch betroffene Personen oder auch interessierte Laien total profitieren würden. In einem professionellen Regal sollte das Werk aber auf alle Fälle gestellt werden. Und das unabhängig von der therapeutischen Schule. 

Daten und Weiterleitungen zum Buch

  • Titel: Neuropsychotherapie
  • Autor: Klaus Grawe
  • Herausgeber: Hogrefe Verlag; 1. Auflage 2004 (23. September 2004)
  • Sprache: Deutsch
  • Gebundene Ausgabe: 509 Seiten
  • ISBN-10: 3801718042
  • ISBN-13: 978-3801718046

 

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