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Ich bewundere Menschen, die sich für eine Sache nahezu hingeben und Expert:innen auf ihrem Gebiet werden. Dazu gehört definitiv auch Irvin D. Yalom. Viele seine Bücher sind keine Fachbücher. Viel mehr findet man ihn auch unter der Rubrik “Roman”. Jedoch gibt es darüber hinaus einige wenige Werke, die man der Kategorie “Lehrbuch” oder auch “Fachbuch” zuordnen kann. Dieses Buch hier gehört definitiv dazu. Yalom ist meines Erachtens nach ein tolles therapeutisches Modell für Kolleg:innen. Und wahrscheinlich ein ebenso guter Therapeut für Patient:innen. Eines seiner Steckenpferde ist die Gruppentherapie. 

Zu Ende des letzten Jahrhunderts hat Yalom zig Gruppentherapien in verschiedenen Formen durchgeführt und wissenschaftlich evaluiert. In diesem Buch beschreibt er seine festgestellten Ergebnisse und erlebten Erfahrungen. Auch wenn der Autor selber der psychoanalytischen Schule angehört, kann ich als Verhaltenstherapeut diese Buch an Kolleg:innen jeglicher Therapieschulen wärmstens empfehlen. Das Buch zählt für mich zu den Klassikern in der Psychotherapieliteratur. Vorausgesetzt man hat selber Lust eine Gruppe anzubieten oder zumindest Lust sich damit auseinanderzusetzen.

Doch was macht das Buch zu einem Klassiker? Gründe würden mir jetzt viele einfallen, da es sehr facettenreich ist. Wahrscheinlich sind es am ehesten die therapeutischen Wirkfaktoren, die so allgegenwärtig sind und die sich in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen mit der Zeit herauskristallisiert haben. Aber keine Sorge, in dem Werk arbeitet der Autor mit einem roten Faden alle Wirkfaktoren durch. Ich stelle die Wirkfaktoren kurz und bündig vor:

  • Hoffnung auf Heilung – Hier geht es vor allem darum die Erwartungen von Patient:innen möglichst schon im Vorgespräch zu klären. Auch gewisse Ängste und Vorurteile können in Vorgesprächen gemeinsam besprochen werden. In der Gruppentherapie ist dies einer der ersten Faktoren, der seine Wirkung entfaltet. Dabei sind Therapeut:innen zu Beginn besonders gefordert, da sie aktiver der Gruppe helfen müssen die Angst vor der therapeutischen Arbeit zu verlieren. Aber gleichzeitig geht es auch darum Teilnehmer:innen zu motivieren, in dem ihnen die Prognose bei regelmäßiger Teilnahme mitgeteilt wird. Dieser Wirkfaktor ist deshalb so wichtig, da er mit anderen Faktoren korreliert, wie z.B. Offenheit, regelmäßige Teilnahme oder auch mit Motivation.
  • Universalität des Leidens – Bei diesem Wirkfaktor wird in den ersten Sitzungen deutlich, dass auch andere Menschen ähnliche Probleme haben, nur vielleicht auf eine andere Art und Weise. Dies ist insofern wichtig, da es den eigenen Isolationsgefühl entgegenwirkt. Anmerkung aus meiner Arbeit: Zudem erarbeite ich häufig auf der Basis dieses Faktors mit Teilnehmer:innen dass ein menschliches Leben ohne Leid oder Schmerz unvorstellbar ist. Wir müssen uns als Menschen eher damit beschäftigen mit bestehenden und kommenden Verletzungen anders umzugehen.
  • Mitteilung von Informationen – Hier fällt all das herunter was Therapeut:innen ihren Patient:innen fachlich vermitteln können. Beispiele: Warum ist Bindung wichtig? Was ist der Sinn von Symptomen? Wie entsteht eigentlich eine Depression und andere Störungen? Wie kann eine Gruppe überhaupt helfen? Aber es ist natürlich auch möglich, das Teilnehmer:innen sich untereinander helfen und Informationen geben. Teilweise hat dies sogar einen stärkeren Effekt, im Vergleich  dazu wenn Therapeut:innen so manche Dinge erklären.
  • Altruismus – Es geht bei diesem Faktor darum sich als handlungsfähiges und soziales Lebewesen zu erleben. Wenn wir anderen helfen, dann erfahren wir uns als wirksam. Andererseits befriedigen wir sogar eigene Beziehungsmotive und erhalten von anderen z.B. Anerkennung. So können sich reziprok funktionale soziale Interaktionen ergeben.
  • Die korrigierende Rekapitulation der Primärfamilie – Dieser Punkt meint eine korrigierende Erfahrung hinsichtlich den Erfahrungen zu machen, die wir in der Kindheit und Jugend erlebt haben. Es geht in der Gruppe dann darum alternative Bindungserfahrungen gemeinsam mit anderen zu erfahren. Z.B. Die eigene Nähe und Distanz zu regulieren. Die eigenen Gefühle anders zu behandeln oder auch die Grundnannahmen über sich und andere zu hinterfragen. 
  • Techniken des mitmenschlichen Umganges – Am ehesten finden wir dies wieder unter dem Begriff der „sozialen Kompetenzen“. Bei diesem Faktor geht es  vor allem darum wie und was man in sozialen Situationen miteinander (be-)spricht. Wie kommuniziere ich inhaltlich? Wie sieht es paraverbal aus? Das bedeutet, wie ist meine Stimme? Und zu guter Letzt: wie sieht es non-verbal aus? Was signalisiert mir mein Körper und was für Informationen erhalten meine Interaktionspartner:innen dabei?
  • Nachahmendes Verhalten – Beschreibt – aus meiner Sicht – am ehesten das Konzept von Albert Bandura „Lernen am Modell“. In der Gruppe helfen sich Teilnehmer:innen häufig implizit gegenseitig. Das bedeutet, ohne es zu merken. Aber auch wenn es bewusst abläuft, ist das ein riesiger Wirkfaktor. Man kann sich gegenseitig beobachten und Anteile, die hilfreich erscheinen, für sich selber adaptieren. Und weniger hilfreiche Anteile wieder verwerfen.
  • Interpersonales Lernen – Dieser Wirkfaktor ist tiefer und vielschichter. Ich habe ihn eher als eine „mentale Repräsentation“ verstanden. Das bedeutet, dass ich die Werte und Einstellungen der anderen Teilnehmer:innen mit meinen Werten und Einstellungen abgleichen kann. Oder ich erfahre mich in der Gruppe neu und kann meine bestehenden Sichtweisen genauer untersuchen und ggf. modifizieren.
  • Die Gruppenkohäsion – Ein wichtiger Faktor, der zu Beginn der Gruppe eine Rolle spielt (darüber hinaus natürlich auch, nur anders). Im Einzelgespräch würde man es die „therapeutische Beziehung“ zwischen Patient:in und Therapeut:in nennen. In der Gruppe ist es die Kohäsion. Je mehr sich eine Gruppe als zusammengehörig erlebt, desto eher werden sich die Teilnehmer:innen untereinander öffnen und authentisch bei den Problemen unterstützen. Dieser Faktor ist die Basis für alle anderen Faktoren.
  • Katharsis – Ein eher psychoanalytischer Begriff. Es geht bei diesem Punkt darum die eigenen Emotionen zu entdecken, erleben und zum Ausdruck bringen zu dürfen. Yalom geht aber noch weiter und betont die Wichtigkeit, dass es nicht um bloße „Entladung“ gehen soll. Viel wichtiger ist dann noch die anschließende kognitive Nachverarbeitung.
  • Die existenziellen Erfahrungen (Tod, Angst, Einsamkeit, Sinnlosigkeit) – Yalom ist Existenzialist. In seinen Therapien kommt er mit Patient:innen häufig darauf zu sprechen, dass es existenzielle Themen gibt, die jeden Menschen zu gewissen Zeitpunkten im Leben betreffen werden. Er geht auch davon aus, dass die Vermeidung dieser Themen sich in z.B. psychischen Störungen oder zumindest in pathologischen Verhaltensweisen äußern könnte. Weshalb viele Menschen im Laufe der Zeit eine Therapie aufsuchen.

Mit diesen machtvollen Wirkfaktoren beschäftigt sich die Gruppe im Verlauf. Jede Person bringt ihre einzigartige Geschichte mit. Früher oder später erleben Teilnehmer:innen ihre Probleme, die sie seit Jahren mit sich tragen, dann auch in der Gruppe. Yalom spricht von einem „Mikrokosmos“. Zu dem nimmt Yalom die Leser:innen von Anfang bis zum Ende gedanklich an die Hand. Teilweise liest sich das Buch wie ein Roman. Was nicht selten daran liegt, dass Yalom detailliert Geschichten einzelner Patient:innen in die einzelnen Kapitel einwebt, um es eben anschaulich zu gestalten. Doch das Buch bietet mehr. Die Geschichte der Gruppe wird erklärt. Aber auch eine Menge an Studien (zu den einzelnen Wirkfaktoren) werden dargestellt. Der Autor liefert zu dem auch Ideen wie klinische Vorgespräche laufen könnten. Worauf man achten sollte bei einer Gruppenzusammenstellung. Welche Phasen Gruppen durchlaufen. Wie gelingt ein Einstieg? Was Therapeut:innen machen können bei „schwierigen“ Gruppenteilnehmer:innen. Wie man mit Abschieden und Neubesetzungen als Therapeutin:in umgeht. Was die Vor- und Nachteile sind, wenn man die Gruppe alleine oder in Co-Therapie durchführt. .Bei welchem Setting man auf was achten sollte (ambulant, stationär, kurzzeitige Gruppe, langzeitige Gruppe). Mit der Zeit wird einem beim Lesen klar wie viele Jahre Erfahrung und Überlegung hinter der Konzeption stecken. Bei dieser Idee von Gruppe handelt es sich um eine pure Psychotherapiegruppe. Es ist keine fachspezifische Gruppe und kein Buch für supportive Gruppen. Sicherlich kann man aber auch für solche Gruppen etwas aus dem Buch mitnehmen.

Als Gruppentherapeut habe ich schon mehrere Durchgänge mit diesem Konzept. Was soll ich sagen? Ich bin begeistert. Es ist ein anderes arbeiten, als man es vielleicht sonst gewohnt ist. Für Therapeut:innen, so wie Patient:innen.

Für wen ist das Buch geeignet?

Ich würde das Buch für Kolleg:innen empfehlen, die bereits Gruppen anbieten oder es vor haben. Man sollte zu dem Spaß und Disziplin für’s Lesen mitbringen, da dieses Buch einige hundert Seiten stark ist. Zudem kann man es anschließend auch gut als Nachschlagewerk verwenden.

Daten und Weiterleitungen zum Buch

  • Titel: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie
  • Autor: Irvin D. Yalom
  • Herausgeber ‏ : ‎ Klett-Cotta; 13. Druckaufl. Edition (7. April 2019)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 704 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3608891897
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3608891898

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