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Kinder suchen sich nicht aus, in welche Umstände sie geboren werden. Sie sind ab Geburt von den eigenen Eltern abhängig. Kinder haben dabei schon universelle Grundbedürfnisse, die sie an ihre Eltern richten, unabhängig davon, ob diese arm oder reich sind. Die soziale Herkunft kann somit dramatische Effekte auf verschiedene Aspekte der kindlichen Entwicklung nehmen.

Die Folgen von Armut halten oftmals ein ganzes Leben lang an und werden an die nächste Generation weitergegeben. Viele Familien landen somit in einem transgenerationalen Teufelskreis. Armut ist ein gesellschaftliches Problem, welches sich selber reproduziert. Der Artikel thematisiert sowohl Ursachen als auch Folgen von (Kinder-)Armut. Dabei werden Aspekte kindlicher Entwicklung angeschnitten. Um die Thematik zu begrenzen, kann nicht auf alle Aspekte eingegangen werden.

Was bedeutet es in Deutschland arm aufzuwachsen?

Wir alle kennen den Begriff der Armut. Jedoch können sich viele Menschen in Deutschland kein konkretes Bild zur Lebenswelt von armen Menschen machen. Der folgende Abschnitt soll etwas mehr Klarheit geben.

Gibt es in Deutschland überhaupt Armut?

Bei Armut denken die meisten Menschen an Hungersnot, Obdachlosigkeit und einen schlechten gesundheitlichen Status. In vielen Ländern ist dies bittere Wirklichkeit. Diese Umstände werden als absolute Armut bezeichnet. Diese Form der Armut bedroht massiv die Existenz von Menschen.

Auch wenn dies in einem Land wie Deutschland fast undenkbar erscheint: In Deutschland findet ebenfalls Armut statt und viele Menschen sind davon betroffen. Man spricht jedoch von einer relativen Armut, weil die meisten von uns ein Dach über dem Kopf und einen Zugang zu Nahrung und Wasser haben. Dies reicht für ein Überleben aus. Jedoch sind Armutsbetroffene in ihren Möglichkeiten und ihrer Entwicklung meist stark eingeschränkt. Relative Armut zeichnet sich in Deutschland z.B. durch mangelnde Teilhabechancen, wenig Zugang zu Bildung und Kultur oder durch Segregation (d.h. Einteilung) in bestimmte Stadtteile aus.

Armut in Zahlen

Etwa 20% der Kinder in Deutschland wachsen in Armut auf. Nicht, weil sie es sich gewünscht haben, sondern weil ihre Eltern arm sind. In keiner anderen Bevölkerungsgruppe ist das Risiko für Armut so hoch wie bei Kindern. Sie können gegen den Armutsstatus nicht aktiv vorgehen, sondern sind den Umständen ausgesetzt. Bildung ist in den meisten Biografien der einzige Ausweg aus der Armut. Doch besteht auch in diesem Bereich auf struktureller Ebene ein Chancenungleichgewicht. Dies wird im späteren Abteil des Blogeintrags nochmal aufgegriffen.

Woher kommt Armut?

Jede Gesellschaft hat ihre Geschichte. Beispielsweise waren in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg viele Menschen von Armut betroffen. Auch bei der gegenwärtigen Mittel- und Oberschicht kann einige Generationen zuvor noch Armut beobachtet werden. Armut ist wie ein Gespenst, welches ganze Generationen geprägt und erschreckt hat.

Deutschland ist gegenwärtig eine Aufsteigergesellschaft. Mit diesem Wandel geht auch ein Paradigmenwechsel einher. Der Fokus verschiebt sich vom Kollektiv zum Individuum. Im Klartext: Wer heute scheitert, ist selber schuld. In Deutschland wird sich nach Leistung und Kompetenz orientiert. Die, die sich Leistung und Kompetenz erlauben können, haben Glück. Der Rest lebt oftmals unter dem eigenen Potential. Dies macht den alten Begriff der Klassengesellschaft wieder topaktuell.

Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg zeigt sich Folgendes deutlich: Die gesellschaftlichen Grenzen sind verhärtet und es ist ziemlich schwer diese zu passieren. Dabei sind manche Grenzen klar sichtbar, andere bestehen im Verborgenen.

Das Fatale: Der gesellschaftliche Rahmen (z.B. ungleiche Bildungschancen, Mangel an Teilhabe) begünstigen Armut. Die Verantwortung wird, wie oben beschrieben, beim Einzelnen gesehen. Frei nach dem Motto: „Hättest du mal in der Schule besser aufgepasst, dann müsstest du jetzt nicht arm sein, liebes Kind“. Doch so einfach ist es nicht.

Wo leben Kinder in Armut?

In vielen deutschen Städten zeichnet sich ein wiederkehrendes Bild ab. Arme Menschen wohnen am Stadtrand, wohlhabendere Menschen leben im Zentrum und in angesagten Szenestadtteilen. „Arme Stadtteile“ sind dabei meistens auch die kinderreichsten. Diese Stadtteile werden nicht nur von armen Menschen bewohnt, sondern sind oft auch arm an Angeboten und kulturellen Möglichkeiten. Oft müssen Kinder mit Bus und Bahn längere Strecken auf sich nehmen, um z.B. für Veranstaltungen in die Innenstadt zu gelangen.

Wird seitens der Stadt doch in einen sozial schwachen Stadtteil investiert, kann dieser an Ansehen gewinnen. Oft besteht dann die Gefahr der Gentrifizierung. Menschen mit Vermögen mieten oder kaufen Objekte in einst sozial schwachen Stadtteilen und drängen arme Menschen weiter an den Stadtrand. Beispielsweise weil auf Dauer der lokale Mietspiegel ansteigt. Eines der bekanntesten Beispiele ist St. Pauli in Hamburg: einst ein Stadtteil für die Arbeiterklasse, der über Jahrzehnte zu einem „hippen Pflaster“ wurde.

Arme Kinder, die den Absprung schaffen und ein Studium beginnen, verlassen oftmals den Stadtteil. Kinder, die weniger Erfolg auf ihrem Bildungsweg hatten, bleiben meist im Stadtteil wohnen. Die „Erfolgreichen“ ziehen weg. Was deutlich ist: Arm und Reich unterliegen einer Segregation und lassen sich gut auf der Stadtkarte ablesen.

Wer es sich leisten kann, entscheidet den Wohnort. Für Menschen ohne finanzielle Mittel wird indirekt mitentschieden. Sie kriegen das, was unbeliebt ist und überbleibt. Sie haben keine Wahl. Armut und Kriminalität weisen einen Zusammenhang auf, der gut nachvollziehbar ist. Sozial schwache Stadteile haben häufig auch eine erhöhte Kriminalitätsrate. Chronische Not und Deprivation treibt Menschen zu Dingen, die mit dem Gesetz in Konflikt stehen können. Das bedeutet, dass Kinder in armen Stadtteilen potentiell auch mehr Gefahren ausgesetzt sind. Dies reicht von Gewalt bis hin zu Drogen. Die Konsequenz ist eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Traumafolgestörungen, wie z.B. eine PTBS, Depressionen oder auch Persönlichkeitsstörungen.

Wie leben Kinder in Armut?

Der Alltag von Kindern in Armut ist gekennzeichnet durch einen Mangel auf verschiedenen Ebenen. Kinder aus armen Haushalten sind ständig mit der Knappheit von Geld und Besitz konfrontiert. Jeder Cent muss mehrfach umgedreht werden. Auf beengtem Wohnraum teilen sich mehrere Personen ein Zimmer mit kaum existenter Intimsphäre. Die Probleme überschlagen sich, „Brände“ müssen gelöscht werden. Dies begünstigt beispielsweise auch, sich vermehrt Sorgen zu machen oder zu grübeln. Solche Erfahrungen können z.B. ein Vulnerabilitätsfaktor für spätere Angststörungen sein.

Generell weisen armutsbetroffene Familien einen erhöhten Stresspegel auf. Man könnte auch sagen, dass für viele Kinder die Aussage „Krise als Normalität“ gilt. Im Endeffekt können Kinder in jeder Altersklasse Stress erleben. Er äußert sich jedoch auf verschiedenen Ebenen, meist abhängig vom Entwicklungsstadium des Kindes. Abhängig vom Entwicklungsalter des Kindes stehen ihm auch Bewältigungsstrategien zur Verfügung. Beispielsweise können sich Kleinkinder ohne elterliche Zuwendung nur schwer beruhigen. Stress kann sie förmlich „überfluten“. Kinder können später Schwierigkeiten haben, ihre Affekte zu regulieren.

Armut ist ein komplexes Problem. Geldmangel kann auf verschiedene Facetten des familiären Lebens Einfluss nehmen. Dies reicht von einem Mangel an Freizeitaktivitäten bis hin zu kaum gemeinsamer Zeit im Miteinander. Manchmal, weil keine Zeit ist aufgrund von Mehrarbeit der Eltern. Manchmal, weil die Familienmitglieder förmlich ausgebrannt sind. Auf lange Sicht fehlen den Kindern Perspektiven und Entwicklungsimpulse. Dabei sollte erwähnt werden, dass arme Familien auch positive Erlebnisse erfahren. Unter all der Last kann „das Gute“ jedoch schnell in Vergessenheit geraten.

Kinder in Armut denken und handeln funktionaler

Durch die chronische oder akute Deprivation sind Kinder dazu gezwungen, sich an die Umstände anzupassen. Aus einem Leben wird oft ein Überleben. Kinder beginnen dann verfrüht die Dinge um sie herum zu „managen“. Nicht selten werden sie in alltägliche Aufgaben eingebunden, wie z.B. die Betreuung der jüngeren Geschwister. Manchen Kindern fehlt die Möglichkeit, einfach Kind zu sein. Gelegentlich werden sie auch zu kleinen Ersatzpartnern. Oft wird in der Armut die Parentifizierung geboren. Das bedeutet, dass Kinder erwachsene Rollen einnehmen, die sie regelrecht überfordern und dramatische Folgen auf ihre Entwicklung nehmen können. Die Folgen prägen sie bis ins Erwachsenenalter.

Das Leben in Armut ist gekennzeichnet durch eine kurzfristige Sicht, die ihren Fokus auf „Probleme lösen“ legt. Dies ist nachvollziehbar, da ein armutgefärbtes Leben häufig durch (Mikro-)Krisen geprägt ist. Alles andere wäre aus der betroffenen Kindersicht irrational. In bescheidenen Verhältnissen wird zunehmend kurzorientierte Denk- und Verhaltensmuster etabliert. Es wird permanent abgewägt, ob etwas notwendig oder nützlich ist (z.B. die Anschaffung von Kleidung). Das Fatale ist: Perspektivisch wird keine Genussfähigkeit ausgebildet. Kinder können dadurch in späteren Lebensabschnitten Schwierigkeiten bekommen, zu entspannen, abzuschalten bzw. überhaupt zu wissen was ihnen guttut. Das heißt zwischen ihnen und ihren Bedürfnissen kann eine Kluft entstehen. Darunter leidet die eigene Selbstfürsorge.

Offene Entscheidungen und die Wahl zu haben, können Kinder regelrecht verunsichern. Diese Situationen werden tendenziell gemieden. Man kann sich auch merken: Kinder die weniger haben, möchten sich weniger Fehlentscheidungen erlauben. Kinder aus armen Verhältnissen bevorzugen eher eindeutige und abgegrenzte Situationen. Die Folge für die kindliche Entwicklung ist jedoch, dass dadurch Kreativität und innovatives Denken meist zu kurz kommen. Eine weitere Folge ist, dass betroffene Kinder sich nicht in Selbstdisziplin üben können, da sie meist keine Wahl haben (möchten) und die Rahmenbedingungen des Alltags sie schon automatisch limitieren und disziplinieren.

Im Kontrast dazu haben Kinder aus wohlhabenderen Familien deutlich häufiger die Wahl. Man könnte auch schreiben, dass Kinder aus dem Wohlstand eher mit der Aufgabe beschäftigt sind, den Überfluss zu „managen“. Sie müssen deutlich seltener negative Konsequenzen fürchten und sind dadurch auch risikofreudiger (z.B. eher was kaufen oder später als Erwachsene weiter entferntere Ausflüge/Reisen wagen). Der Unterschied: Während es bei armen Menschen vermehrt um Funktionalität geht, beschäftigen sich gehobene Schichten mit Stilfragen und dem Selbstzweck. Es geht um Langzeitorientierung und Abstraktion.

Armut und Habitus

Wer arm ist, möchte partizipieren. Oftmals fühlen sich Familien mit ihren Kindern vom Rest der Gesellschaft alleine gelassen. Kinder aus armen Verhältnissen erleben in ihrem Alltag eine Art von Entsolidarisierung. Viele der Klassengrenzen können mit gutem Willen und netten Worten nicht überwunden werden. Kinder fühlen sich meist etwas außen vor und beziehen es auf sich selbst. Gerade Kinder mit einer Migrationsgeschichte kriegen dies im Alltag zu spüren. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, sind Geschichten der Armut auch immer Geschichten von Kränkung und Verletzung.

Der Habitus beschreibt in der Soziologie die Grundhaltung und Weltanschauung eines Menschen. Psychologisch betrachtet geht man davon aus, dass Kinder in der Interaktion zu ihren Eltern, und anderen Personen, zeitstabile Grundannahmen über sich und ihre Umwelt verinnerlichen. Alles was die Kinder gestalten und wahrnehmen geschieht über die Brille der Grundannahmen. Pragmatisch gedacht: Das Leben des Kindes ist zu Beginn ein fast identisches Abbild der Eltern. Sind Eltern bildungsfern und arbeitslos, kann dies ein Kind extrem prägen.

Diese Grundhaltung wird früh im Milieu eines Menschen verinnerlicht. Sie hilft dabei im sozialen Sektor klar zu kommen, den Erwartungen zu entsprechen und den Code (z.B. den „Slang“ einer Gruppe) zu sprechen. Dies hilft Kindern und Erwachsenen bei der Orientierung. Im Habitus bilden sich ebenfalls die Gemeinsamkeiten von Personen ab, die in einem gemeinsam sozialen Umfeld aufwachsen. Es geht nicht nur um Routinen und Gewohnheiten. Es geht um Ästhetik, Stil, bis zur Weltsicht. Es geht um Kultur und um Kultivierung.

Doch der Habitus lässt sich nicht nur am sozioökonomischen Status ablesen. Er zeigt sich ebenfalls in Kleidung, der Art und Weise wie ein Mensch spricht, in der Bewegung, im Wissen und über das Netzwerk an sozialen Beziehungen. All die Komponenten des Habitus haben Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und den Selbstwert. Das bedeutet, dass schon früh im Leben die Gefahr besteht, sich als Kind vergleichsweise unzulänglich und minderwertig zu fühlen. Gerade wenn benachteiligte Kinder sich mit dem Habitus gehobener Schichten vergleichen.

Kinder aus armen Verhältnissen mangelt es oftmals an Vorbildern, die ihnen helfen sich selber zu verwirklichen. Die eigenen Eltern haben selber einen Habitus, der durch Armut geprägt wurde. Oftmals übernehmen die Kinder dies schleichend als ihr eigenes Modell.  Dies ist insofern problematisch, weil Kinder dadurch nicht ausreichend auf die Anforderungen des Lebens vorbereitet werden. Wie geht eigentlich Schule? Wie gehe ich mit Geld um? Wie löse ich Konflikte? Oft können Eltern ihren Kindern diese Fragen nicht beantworten und sind beschämt. Bei Kindern löst dies eine tiefe Verunsicherung aus, die ihre Startbedingungen weiter erschwert.

Armut und die Auswirkung auf die kindliche Entwicklung

In der Psychologie und der Forschung gilt Armut als ein Hochrisikofaktor für die Entwicklung einer psychischen Störung. Auch die körperliche Entwicklung kann immens unter Armut leiden. Beide Ebenen hängen eng miteinander zusammen. Im Folgenden sollen die Auswirkungen auf die körperliche und psychische Entwicklung beschrieben werden.

Armut und körperliche Entwicklung

Kinder aus armen Verhältnissen weisen diverse Nachteile in der körperlichen Entwicklung auf. Beispielsweise leiden sie häufiger an Übergewicht. Dies hängt maßgeblich an ihrer Ernährung und den Bewegungsmangel. Meistens fehlt den Eltern das Wissen für eine ausgewogene Lebensführung (z.B. Umgang mit Industriezucker und regelmäßiger Sport). Das Wissen über eine gesunde Lebensführung hängt wiederum am Bildungsgrad der Eltern.

Oft wird eine suboptimale Ernährung begleitet von einem schlechten Zahnstatus. Eine schlechte Mundhygiene kann Schmerzen verursachen. Dies kann dazu führen, dass bestimmte Lebensmittel nicht mehr verzehrt werden können. Mangelzustände sind eine mögliche Folge.

Im Übergang zur Psyche können die oben genannten Beispiele (z.B. der Zahnstatus) Hemmnisse erzeugen. Kinder vermeiden soziale Situationen. Vielleicht haben sie sogar Angst, vor anderen zu sprechen oder zu lachen, da andere z.B. das schadhafte Gebiss erblicken könnten. Beispielsweise kann dadurch das motorische Sprechen-Lernen erschwert werden (z.B. Nuscheln).

Statistisch betrachtet wird in armen Familien mehr konsumiert (z.B. Nikotin und Alkohol). Kinder sind einem Substanzkonsum wahrscheinlicher ausgesetzt. Beispielsweise könnte es vorkommen, dass sie den Rauch einer Zigarette passiv mit konsumieren. Dies begünstigt einen verfrühten Einstieg in den eigenen Konsum.

Die Folgen könnten perspektivisch nicht fataler sein. Schlechte Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht und Substanzkonsum sind sichere Risikofaktoren, die zu einem späteren Lebenszeitpunkt kardiovaskuläre Erkrankungen, Lungenerkrankungen oder auch Krebs bedingen können. Arme Kinder sind bei der Einschulung häufiger auffällig in ihrer Visuomotorik und der Körperkoordination. Sie können sich schlechter konzentrieren, sprechen schlechter Deutsch und können schlechter zählen als Kinder aus gehobeneren Schichten.

Armut und psychologische Grundbedürfnisse

Die Psychologie nimmt an, dass jeder Mensch biologisch angeborene Grundbedürfnisse hat. Nach Klaus Grawe sind dies: Bindung, Kontrolle/Orientierung, Lustgewinn/Unlustvermeidung und Selbstwerterhöhung bzw. Selbstwerterhalt. Die Erfüllung von Grundbedürfnissen ist eine wichtige Basis für ein stabiles psychisches und körperliches Wohlergehen. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Erfüllung der kindlichen Grundbedürfnisse und der (späteren) Gesundheit. Dauerhafte Frustrationen können wiederum Krisen und psychische Störungen nach sich ziehen. Kinder in Armut haben im Allgemeinen ein erhöhtes Risiko in den einzelnen Grundbedürfnissen frustriert zu werden.

Eine liebevolle und feinfühlige Beziehung ist ein wichtiger Punkt in der Entwicklung eines Kindes. Eine sichere Beziehung schafft Geborgenheit und ist der Grundstein dafür, dass Kinder sich trauen, später ein selbstständiges Leben zu führen. Das Bedürfnis nach Bindung kann jedoch durch Armut in Mitleidenschaft gezogen werden. Zum Beispiel wird das Bedürfnis nach Bindung frustriert, wenn es kaum eine Möglichkeit gibt, eine tragfähige Eltern-Kind-Beziehung zu entwickeln. Gründe gibt es viele: Diese reichen von mangelnder Zeit, weil die Eltern arbeiten, bis hin zum emotionalen Ausfall der Eltern aufgrund von psychischen Störungen. Armut ist nicht selten auch ein Grund für Mobbing in der Schule (z.B. wenn ein Kind sich keine Markenkleidung leisten kann). Es würden noch unzählige soziale Situationen folgen, in denen Kinder auf der Bindungsebene frustriert werden. Mögliche Folgen sind z.B. ein unsicherer Bindungsstil, soziale Gehemmtheit oder sogar eine soziale Phobie.

Das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung wird schon durch die verarmten Lebensumstände frustriert. Kinder befinden sich in einer Lebensform, in der sie wenig Einfluss auf eine Veränderung haben. Beispielsweise kann ein angespanntes Elternteil plötzlich laut werden, was in einem Kind Gefühle von Ohnmacht und Kontrollverlust auslöst.

Lust und Unlust spielen eine wesentliche Rolle bei armen Kindern. Man stelle sich nur all die unsichtbaren Aufgaben vor, die Kinder erledigen. Im Kindesalter sind es z.B. Haushalt oder auf Verwandte aufpassen. In der Jugend können es schon kompliziertere Dinge sein wie z.B. Amtsgänge, beim Elternabend übersetzen oder die Steuererklärung der Eltern mit ausfüllen. Kinder aus diesen Verhältnissen kennen es gut, ihre Unlust zu vermeiden, in dem sie die Aufgaben kurzfristig erledigen. Damit soll meist größerer (emotionaler) Schaden abgewendet werden.

Die Umstände wirken von allen Seiten auf den Selbstwert ein. Arm zu sein, ist eng mit Scham verbunden. Kinder sind meist erfinderisch und überlegen sich Wege, wie sie ihren Selbstwert regulieren können. Die Kompensation der Selbstwert-Kränkungen reicht von kreativen Alternativen wie z.B. Rap-Musik produzieren, ästhetisch und hübsch sein bis hin zu extremen Formen wie z.B. Kriminalität. All dies dient dem Kind dazu, sich selber nicht negativ zu erleben.

Armut und Identität

Kinder entwickeln mit zunehmenden Alter ein stabiles Selbstbild. Dieses wird durch die Interaktion mit der Umwelt mitgeprägt. Wenig zu haben oder im sozialen Brennpunkt aufzuwachsen, kann bei Kindern und Erwachsenen starke Gefühle der Beschämung auslösen. Es macht durchaus einen Unterschied, ob ein Kind nach der Schule in den eigenen Garten zurückkehrt oder mit dem Bus in den Plattenbau fährt.

Arm zu sein heißt, nicht nur Scham zu erleben. Es kann auch bedeuten beschämt zu werden. Beispielsweise über Beschuldigung, Abwertung und Ausschluss durch Dritte. Nicht selten verdecken Kinder ihre Herkunft, in dem sie z.B. im Bus einige Stationen vorher aussteigen oder keinen Besuch mit nach Hause nehmen.

Selbstverleugnung und die ständigen Alltagskämpfe führen jedes Mal zu „Narben“ in der Kinderseele. Auf dem Kind sitzt ein sozialer Druck, der sich zu einem späteren Zeitpunkt auf die Eltern übertragen kann. Zum Beispiel mit Vorwürfen wie: „Mama/Papa warum müssen wir arm sein?“.

Umstände wie diese verlangen von einem Kind ein besonderes Maß an Ich-Stärke und ein Selbstvertrauen, was noch in der Entwicklung steckt. Der Preis der Selbstverleugnung ist hoch. Denn einige Kinder entwickeln ihre eigenen Bewältigungsstrategien, um mit diesem inneren Schmerz umzugehen. Einige Kinder sind z.B. in sozialen Kontakten gehemmt und sprechen wenig. Wiederum andere werden zum „Klassenclown“. Meist wollen sie mit ihren Rollen nur angenommen werden. Doch viel öfter fallen sie mit ihrem Verhalten noch mehr auf und bestätigen damit ihre eigenen Annahmen. Immer wieder wird ihnen damit bestätigt, dass sie anders sind. Im Ganzen betrachtet, nehmen solche Ereignisse gravierende Einfluss auf die Ausbildung der eigenen Identität. Meist so, dass Kinder sich bis ins Erwachsenenalter für Aspekte ihres Selbst schämen.

Armut im sozialen Miteinander

Jeder Mensch möchte Teil einer Gesellschaft sein. Sich verbunden zu fühlen ist nur natürlich. Jedoch geht Armut, wie oben beschrieben, meist mit einem persönlichen Eindruck von Kontrollverlust und Ohnmacht einher. Man wird förmlich zu einem Objekt, über das andere entscheiden und auf die man angewiesen ist (z.B. Ämter, Politik).

Viele Menschen empfinden das Leben in Armut als entwürdigend. Armut schließt Lebensperspektiven, wenn das Gehalt am Ende des Monats nicht für ein würdiges Leben ausreicht. Die eigenen Kräfte werden zunehmend gefressen. Dies spüren armutsbetroffene Kinder schon in frühen Tagen. Ab einem gewissen Alter können Kinder das elterliche Verhalten und die Empfindungen gut interpretieren. Das Gefühl nichts bewegen zu können, lässt an den eigenen Fähigkeiten zweifeln. Daraus können Resignation und Widerstand entstehen, die Gefühle zwischen tiefer Wut und offensichtlicher Hilflosigkeit auslösen. Das Traurige ist, dass Kinder diese Haltung schleichend übernehmen. Sie werden zum Abbild der Erwachsenen. Sie lernen am Modell. Nicht alle, aber mehr als genug.

Armut, Erziehung und psychische Störungen

Da Armut in vielen Fällen transgenerational weitergegeben wird, weisen Eltern von armutsbetroffenen Kindern selber Erfahrungen mit Armut auf. Oft sind die Eltern schwer belastet durch die Umstände. Die Belastung ist meist schon als chronisch zu werten und sie haben ihre Lebensführung an die Umstände angepasst. Besonders gefährdet sind dabei Familien mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende (meist ohne Vater) und Familien ab drei Kindern.

Die Elternschaft ist für sich schon ein Kraftakt. Wenn zusätzlich arme Verhältnisse bestehen, können die selbstverständlichsten Aufgaben zu einem Hindernis werden. Eltern lieben ihre Kinder in den meisten Fällen und wollen nur das Beste für ihre Entwicklung. Dem gegenüber stehen oftmals das eigene (geringere) Bildungsniveau, mangelnde Ressourcen und die damit verbundenen Möglichkeiten, die eigenen Kinder adäquat bei ihrer Entwicklung zu begleiten. Sie geben ihren Kindern was sie können und handeln nach den Prinzipien, die sie kennen.

Besteht bei einem oder beiden Elternteilen eine psychische Störung, kann die kindliche Entwicklung stark davon betroffen sein. So ist bekannt, dass z.B. depressive Mütter weniger feinfühlig den emotionalen Zustand ihres Kindes lesen und spiegeln können. Was zur Folge hat, dass das Kind nicht co-reguliert wird und keinen angemessenen Bezug zu seinen Gefühlen lernt. Es zeigt sich auch, dass der Bindungsstil der Mutter in vielen Fällen auf das Kind übertragen wird. Ähnliche Auswirkungen kann auch der Vater haben. In vielen Familien hat der Vater die Rolle des Versorgers und ist arbeitsbedingt nicht anwesend. Man darf nicht vergessen, dass auch die Abwesenheit einer Person, Einfluss auf ein Kind nehmen kann. Ein weiterer Punkt ist, dass armutsbetroffene Familien verhältnismäßig häufig mit Sucht zu kämpfen haben. Wenn ein Elternteil abhängig und betäubt ist, kann er nicht anwesend und feinfühlig sein. Darüber hinaus fallen alltägliche Aufgaben aus. Neue Probleme sind vorprogrammiert.

Armut, Schule und Bildung

Die Chancenungleichheit reproduziert sich dort, wo sie ausgeglichen werden soll. Nämlich in der Schule. Es existiert ein Mangel an Bewusstheit für diese Thematik in Gesellschaft und Bildungspolitik. Im Folgenden wird dargestellt, wie der Faktor Bildung die Entwicklung von armen Kindern mitunter ausbremst. Bildung wird somit nicht zur Lösung, sondern zu einem eigenen Problemfeld. Denn in Schulen wird nicht Kompetenz, sondern die Performance gemessen. Viele Kinder können unter armen Verhältnissen ihr volles Potential nicht ausschöpfen und damit auch nicht „performen“. Gleichzeitig sind sie auf einen guten Bildungsweg angewiesen, um den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen. Bildung erzeugt zwar Wohlstand, jedoch hängt Bildung maßgeblich vom Wohlstand ab.

Studien zeigen, dass die Schichtzugehörigkeit und das Bildungsniveau (und damit das verbundene Kapital) die Berufslaufbahn mit einem starken Effekt bedingen. Zum Beispiel brechen Kinder aus einem bildungsnahen Haushalt seltener das Studium ab. Vergleicht man die schulische Leistung von Kindern aus privilegierten und armutsgefährdeten Haushalten, entstehen Unterschiede von bis zu zwei Schuljahren. Zum Nachteil der armutsgefährdeten Kinder. Durch die mangelnde häusliche Unterstützung und die Chancenungleichheit in der Schule haben Kinder aus der Unterschicht gleich zwei Hemmnisse, die ihnen eine solide Bildungslaufbahn erschweren.

Schule – Ein Ort der Bildung?

In der Kita und der Grundschule fallen die Unterschiede zwischen den Schichten noch nicht gravierend auf. Dies ändert sich mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule. Kinder können sich deutlich darin unterscheiden, wie sie den Schulbesuch wahrnehmen und was sie dabei (de-)motiviert. Das Klassenzimmer wird zum Symbol einer Klassengesellschaft.

Für benachteiligte Kinder ist die Schule nicht selten der einzige Ort an dem Bildung stattfindet. Vieles, was sie in der Schule erfahren, hören sie zum ersten Mal. Und davon können sie vieles nicht auf ihren persönlichen Kontext übertragen. Die Distanz zwischen den Erfahrungen in der Schule und den Erfahrungen zu Hause ist groß. Kinder aus armen Verhältnissen prüfen den Schulstoff oft auf Zweckorientierung und wozu sie ihn außerhalb der Schule gebrauchen können. Es fällt ihnen schwer, sich auf etwas einzulassen, was wenig dienlich für das eigene Leben ist. Mitunter können dadurch auch die Noten leiden.

Die Strukturen und Inhalte innerhalb der Schule sind auf Familien der Mittelschicht angepasst. Es wird vorausgesetzt, dass sich die Eltern nach der Schule mit den Kindern über die Inhalte auseinandersetzen. Dies lässt sich in der Realität jedoch nicht umsetzen. Es zeigt sich, dass Kinder in Armut deutlich weniger von Schulinhalten zu Hause berichten. Auf der anderen Seite mangelt es den Eltern oftmals selbst an Bildung, um ihren Kindern eine angemessene Begleitung anbieten zu können (z.B. Unterstützung bei den Hausaufgaben oder interessiertes Nachfragen über den Schulalltag). Es zeigt sich auch, dass Eltern seltener externe frühkindliche Bildungsangebote annehmen. Meist ist es ein Mix aus Unwissenheit und der Angst „was einen da so erwartet“. Es lässt sich nachweislich berichten, dass der schulische Leistungsunterschied zwischen den Schichten innerhalb der Sommerferien signifikant größer wird. Dies bestätigt erneut die These, dass die Schule für die meisten Kinder aus der Unterschicht der einzige Ort der Bildung ist.  

Armut im Klassenzimmer

Im Unterricht fällt es betroffenen Kindern schwerer, etwas nachzufragen oder zuzugeben, wenn sie etwas nicht verstehen. Es wird dann eher geschwiegen. Sie zeigen zu dem auch mehr Unsicherheiten in offenen Unterrichtsformen und bevorzugen eher klaren „Frontalunterricht“. Sie haben auch Hemmungen die Arbeit der Lehrer zu kritisieren und zu hinterfragen. Meist ist das Verhalten auf das oben genannte Scham-Erleben zurückzuführen, verbunden mit der Sorge etwas falsch zu machen und ausgeschlossen zu werden.

Untersuchungen zeigen, dass arme Kinder von ihren Lehrern im Verhältnis strenger bewertet werden. Eine Hypothese ist, dass das Wissen über die Familienverhältnisse der Kinder bei Lehrern in die Bewertung mit einfließt. Oder im Klartext: Lehrer Bewertungen sind nicht frei von unbewussten Vorurteilen. Dabei ist bekannt, dass die Erwartung und Haltung von Lehrkräften gegenüber ihren Schülern eine tragende Rolle spielen. Sie bestimmen mitunter die Schullaufbahn eines Kindes. Das zweite (konträre) Problem: Die Ausbildung von Lehrern ist nahezu blind für die soziale Herkunft. Lehrkräften kann es schwer fallen, dafür ein Sensorium zu entwickeln. Die meisten Lehrkräfte waren selber keine Haupt- und Realschüler bzw. stammen aus bildungsnahen Milieus. In erster Linie werden sie „nur“ im Studium für einen didaktisch gut geplanten Unterricht vorbereitet.

Armut und Schulabschlüsse

Im Schnitt machen 79 % der Akademikerkinder (d.h. mindestens ein Elternteil hat studiert) eine akademische Ausbildung. Wohingegen nur 27 % der Nicht-Akademiker-Kinder es schaffen eine akademische Ausbildung zu erlangen. Das ist fast das Dreifache. Diese Darstellung wird auch als sogenannter Bildungstrichter bezeichnet. Die Folge ist, dass eine Vielzahl von Berufen zukünftig einen Mangel an Diversifikation in den Punkten Schichtzugehörigkeit und Ethnie aufweisen wird. Der Trichter zeigt auf, dass nur Menschen aus bestimmten Schichten in bestimmte Positionen Eingang finden.

Dadurch bleiben Kinder aus armen Verhältnissen weiter in ihrer Schicht und haben kaum Spielraum für einen Aufstieg. Bildung als Ausweg aus der Armut wird zu einer Illusion. Wenn man die Nicht-Akademiker genauer anschaut, wird die Realität noch ernüchternder.

  • Wenn die Eltern von Kindern Facharbeiter mit Fachabitur sind, liegt die Wahrscheinlichkeit für eine akademische Laufbahn bei ca. 48 %.
  • Wenn die Eltern von Kindern Facharbeiter sind, liegt die Wahrscheinlichkeit einer akademischen Laufbahn bei ca. 24 %.
  • Wenn die Eltern von Kindern keinen beruflichen Abschluss aufweisen, liegt die Wahrscheinlichkeit einer akademischen Laufbahn bei ca. 12 %.

Es sei gesagt, dass ein Studium nicht immer erstrebenswert ist. Es wird an dieser Stelle dennoch erwähnt, da Kindern aus benachteiligten Haushalten meistens keine Wahl bleibt. Die Wahrscheinlichkeiten könnten auch interpretiert werden als „zu wie viel Prozent hat ein Kind aus Haushalt X eine Wahl bezüglich seiner Laufbahn?“. Am Rande sei erwähnt, dass wir in den kommenden Jahren vor einem riesigen Fachkräftemangel stehen werden. Inzwischen werden Arbeitsplätze geschaffen, die einen höheren Bildungsabschluss fordern. Dadurch werden beispielsweise Haupt- und Realschulabschlüsse entwertet.

Armutszeugnis

Übergreifend lässt sich feststellen, dass benachteiligte Kinder im Vergleich Kompetenzdefizite aufweisen. Zu Hause fehlen die Modelle, in der Schule werden die Probleme nicht thematisiert. Nicht selten finden sich talentierte Kinder in der Unterschicht, doch deren Potential wird nicht erkannt. Parallel leidet der Selbstwert und die Kinder glauben weniger an sich. Dies führt zwangsläufig zu schlechteren Bildungsabschlüssen. Dabei spielt auch das Elternverhalten eine Rolle. Viele Eltern kennen höhere Bildungswege nicht und haben auch nicht das nötige Wissen oder die finanziellen Ressourcen dies zu unterstützen. Sie reagieren dadurch generell verhaltener und präferieren tendenziell eine Ausbildung für ihre Kinder. Wenngleich man dieses Verhalten nicht auf alle Eltern pauschalisieren sollte. Auch in späteren Bewerbungsgesprächen schneiden Kinder aus armen Verhältnissen schlechter ab. Dabei wirken Selbstwert – und Kompetenzdefizite, so wie der Habitus auf die Situation mit ein. Ebenfalls sind Lehrer in ihrem Alltag massiv überfordert und nehmen zwangsläufig parallel mehrere Rollen ein. Lehrkräfte haben gegenwärtig kaum noch Möglichkeiten sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Es fehlt der Raum ein Sensorium für die soziale Herkunft zu entwickeln. Unter diesen Umständen leiden Kinder aus der Unterschicht meist (beruflich) ein Leben lang.

Wege aus der Armut - Die Aussteiger

Wie weiter oben im Text ausgeführt, ist Deutschland eine Aufsteigergesellschaft. Gerade Menschen aus der Unterschicht möchten die Klassengrenzen passieren und ihren Status überwinden, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Für Kinder in Armut ist die einzige Aufstiegsmöglichkeit der Weg der Bildung. Jedoch ist Bildung nur eine Voraussetzung und keine Garantie für ein besseres Leben. Von betroffenen Kindern werden ein emotional dickes Fell und Kompetenzen in puncto Trennung verlangt. Darüber hinaus brauchen sie eine gute Anpassungsfähigkeit und eine solide Frustrationstoleranz. All die Begriffe verdeutlichen nochmal, wie viel Kraft Kinder aufbringen müssen, um etwas an ihrem Leben dauerhaft zu verändern. Soziale Wanderung und Bildungsaufstiege sind nicht so sehr gekennzeichnet durch rationale Entscheidungen, sondern durch emotionale Konflikte. Die Beendigung von Armut und der Bildungsaufstieg sind in allen Fällen Wagnisse.

Beispielsweise stellen sich Kinder mit Migrationshintergrund einem für sie charakteristischen Konflikt. Einerseits gibt es seitens der Eltern eine Erfolgserwartung („du sollest es mal zu etwas bringen“). Anderseits besteht parallel dazu eine Loyalitätserwartung („ehre unsere Kultur und bleib unseren Werten treu“). Dies ist problematisch, da Kinder dadurch mehrere Rollen gleichzeitig erfüllen müssen: dem deutschen System gerecht werden und der Tradition und Kultur die Treue schwören.

Aufzusteigen bedeutet auch immer etwas zurück zu lassen. Viele Kinder, die es aus dem Armutskreislauf schaffen, erleben eine räumliche (z.B. weil sie umziehen) und emotionale Distanz zu ihrer Herkunft. Sie kommen irgendwann nur noch als Besucher nach Hause und ihr ehemaliges Umfeld merkt, dass der Habitus ein anderer ist (z.B. wie man nun angezogen ist und wie gesprochen wird). Das subjektive Erleben, der nun erwachsenen Kinder, geht oft einher mit Entwurzelung und Heimatlosigkeit.

Armut endet nicht mit einem akademischen Abschluss. Die Bitterkeit über das vergangene Leben kann weiterhin eine emotionale Wunde darstellen. Selbst Ansehen und ein gutes Gehalt können die inneren Konflikte nicht verhindern. Es ist beispielsweise möglich, dass die nun erwachsenen Kinder sich immer noch als Versager wahrnehmen.

Oft ist auch zu beobachten, dass der eigene Selbstwert an (Arbeits-)Leistung gekoppelt wird. Weil das Leben so streng war, sind sie es zum Teil auch. Sich gegenüber besteht ein erhöhter Standard. Anderen gegenüber kann harsch begegnet werden. Auf der anderen Seite kann es sein, dass sie sich weiterhin in sozialen Situationen unsicher erleben. Manchmal auch dann, wenn sie inzwischen seit Jahrzehnten in einer anderen Schicht leben. Sie orientieren sich an dem was andere in ihrer neuen Schicht tun und verlangen.

Auch eine tiefe und unerklärliche Trauer kann als Wegbegleiter wahrgenommen werden. Manche fühlen sich wie „Underdogs“ und Außenseiter. In der neuen Schicht fühlen sie sich anders und mit ihrer Herkunft können sie sich nicht mehr identifizieren. Es kann auch vorkommen, dass sie sich selber sabotieren (z.B. berufliche Chancen nicht wahrnehmen, obwohl es möglich wäre). Manchmal werden durch den Habitus und die verinnerlichten Grundannahmen Partnerschaften gesucht, die einen selber hemmen. Es fällt den erwachsenen Kindern schwer die alten Rollen ihrer sozialen Herkunft abzulegen. Der soziale Aufstieg fordert einen hohen emotionalen Preis.

Quellen und Kontakt

Butterwegge, C., Klundt, M., & Zeng, M. (2008). Kinderarmut in Ost-und Westdeutschland.

El-Mafaalani, A. (2020). Mythos Bildung: die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Kiepenheuer & Witsch.

Groos, T., & Jehles, N. (2015). Der Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern. Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchung. Arbeitspapiere wissenschaftliche Begleitforschung „Kein Kind zurücklassen.

Loetz, C.; Müller, J. (2023). Rätsel des Unbewußten. Podcast zu Psychoanalyse und Psychotherapie. Was Armut mit uns macht.

Zum Thema Armut sind Seminare, Impulsvorträge und Beratungen möglich. Kontaktieren Sie mich gerne unter kontakt@gedankenausmblog.de

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